Dienstag, 27. Oktober 2015

Das Kind

Als ich das Kind zum ersten Mal sah, ging ich am Spielplatz vorbei. 
Eigentlich ein ganz normaler Nachmittag, nach der Arbeit am Weg nach Hause.
Der Junge mochte zwischen sechs und zehn sein, ich kann das schlecht abschätzen. 
Er saß alleine auf dem Drehteller, die Füße am Boden und schaute nur kurz zu mir herüber.
Er fiel mir nur auf, weil er kurze Hosen und ein Hemd trug. Es war ein schöner Herbstnachmittag, aber nicht so, dass es den doch eher sommerlichen Anblick rechtfertigte.
Der Spielplatz war ansonsten leer, nur gegenüber auf dem Fussballplatz tobten ein paar Kinder, die Schulsachen achtlos auf einen Haufen geworfen.
Ich habe nicht weiter über den Jungen nachgedacht, wozu auch.

Ich könnte nur schwören, dass ich ihn ein paar Wochen später wieder gesehen habe. Wie er im Bus von der Arbeit in der Mitte saß, als ich an ihm vorbei ging.
Ich habe ein schlechtes Gedächtnis, was Gesichter angeht, aber ein kleiner Junge in Sommerkleidung, der alleine sitzt? Vielleicht habe ich es auch nur kurz geträumt. Wie ich mich umdrehte, war er nicht da. 

Die Begegnungen häuften sich. Bald sah ich den Jungen ein- bis zweimal am Tag. Immer irgendwo alleine sitzend, auf jemanden warten. Unbemerkt von den Menschen in seiner Umgebung.

Ich habe ihn in meiner Wohnung gesehen. Ich liege schon im Bett, auf dem schmallen Grat zwischen Wachen und Schlaf, da habe ich noch einmal ich die  Augen aufgemacht, und er schaut mir direkt in die Augen. Sein Kopf in Höhe meines Kopfes, ein ruhiger Blick, ohne Emotion.

Ich schließe die Augen, drehte mich um, und verhalte mich ruhig. Vielleicht glaubt er, dass ich ihn nicht bemerkt habe. Ich hoffe es. Ich habe Angst.

Copyright Karl-Rückert Eva